Radikal aus Schwäche

Kürzlich beschwerten sich Berliner Anarchisten wegen gnadenloser öffentlicher Missachtung. Über ihre Tat habe es überhaupt keine Berichte in der Presse gegeben. Es sei doch „zweifelhaft“, dass „Sabotageakte kein Interesse in den Medien erzeugen“, schrieben sie am 7. August auf der linksradikalen Internetseite indymedia.org.

Vielleicht gebe es eine Nachrichtensperre von der Polizei oder der Politik, spekulierten sie gar. Die Enttäuschung war offenbar groß. Die Verfasser der Beschwerde hatten einen Sendemast am „Innovationspark Wuhlheide“ im Osten Berlins zerstört und dafür nach eigenen Angaben drei zeitverzögerte Brandsätze gelegt. In dem Innovationspark, der nach der Wiedervereinigung auf dem früheren Gelände
der Akademie der marxistisch-leninistischen Organisationswissenschaft der DDR entstand, sind rund 200 Techunternehmen und Start-ups angesiedelt.

Die Linksextremisten bekämpfen diesen „Technologiewahn“. Allein: Das interessiert keinen. Dass irgendwo Fensterscheiben zu Bruch gehen, Kabelbrände in der S-Bahn
gelegt oder Autos angezündet werden, ist in Berlin nichts Besonderes. Es sind die üblichen Aktionen sogenannter linksautonomer Gruppen, um sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern. Doch die Zeiten, in der die Szene die Stadt und die Polizei in Atem hielt, sind lange vorbei.

Der „Revolutionäre 1. Mai“, an dem die autonome Szene Berlins früher ihre Militanz in Kreuzberg unter Beweis stellte, ist seit etwa einem Jahrzehnt zum leeren Ritual geworden. Der letzte Maifeiertag war der friedlichste seit Langem, obwohl gerade ein neuer Senat unter Führung der
CDU ins Amt gekommen war.
In der linksradikalen Szene der Hauptstadt wurde er aufgrund der ausgebliebenen Randale als große Niederlage bewertet. Die Friedfertigkeit hat indes nicht nur mit kluger Polizeitaktik zu tun, sondern auch mit der schwachen Mobilisierungskraft der linksextremistischen Szene. Ihr fehlen immer mehr die Treffpunkte und nicht zuletzt der Nachwuchs.

Der Berliner Verfassungsschutz schreibt in seinem jüngsten Jahresbericht über die „momentane Stagnation der autonomen Szene“. Nachdem die einst führende Gruppe, die „Radikale Linke Berlin“, sich inoffiziell aufgelöst habe, fehle „ein richtunggebender Akteur“. Die Zahl der gewaltbereiten Linksextremisten, der Autonomen und Postautonomen, lag nach Angaben des Verfassungsschutzes 2022 bei 850 Personen; im Vergleich zum Vorjahr hat sie um hundert Personen abgenommen.

Selbst das berüchtigte besetzte Haus in der Rigaer Straße 94 im Ortsteil Friedrichshain hat kaum noch Strahlkraft.
Dort hatten Linksautonome immer wieder Polizisten angegriffen, Molotowcocktails und Steine auf Streifenwagen geworfen, auch die sich wehrende Nachbarschaft terrorisiert. Zwar ist die Rigaer 94 noch ein bekanntes Symbol in der Szene,aber keineswegs unumstritten. Ihre Be-
wohner gerieren sich zwar seit Jahren arrogant als Avantgarde, konnten aber kaum als Herd des Widerstands gegen den kapitalistischen Staat überzeugen.

Während der letzten großen Auseinandersetzung vor zwei Jahren mussten die angeblich so kompromisslosen Kämpfer
die Polizei und den Brandschutzbeauftragten ins Haus lassen. Den benachbarten Szenetreff in der Liebiger Straße 34 gibt es nach einer Räumung nicht mehr.
Die Rigaer 94 ist seitdem „mindestens räumlich isoliert“, wie der Verfassungsschutz schreibt.

Das größte Problem für die autonome Szene ist, dass sie kein dominierendes Thema mehr hat. Seit einem Jahr fordert
sie zwar zu Demonstrationen unter dem Motto „Der Preis ist heiß“ auf, wendet sich gegen die Inflation und fordert eine
soziale Revolution. Doch die Zahl der Teilnehmer, die selten hundert übersteigt, zeugt davon, dass die Kampagne
nicht zündet. Auch der Aufruf, Lebensmittelmärkte ausProtest gegen die Preissteigerungen zu plündern, ist verhallt.

Bei allen wichtigen politischen Themen dominieren andere Gruppen, sie haben die Linksautonomen an den Rand gedrängt. Etwa beim Klimaschutz. Da hat die Letzte Generation für Aufsehen gesorgt. Mit ihren Straßenblockaden hat die Gruppe gerade in Berlin helle Aufregung provoziert und viele Sympathien verspielt, nun gibt es zahlreiche Strafverfahren gegen ihre Mitglieder. Als Linksextremisten aber sieht der Berliner Verfassungsschutz die Gruppe nicht. Denn die Mitglieder der Letzten Generation wenden sich nicht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, ihre Aktionen richten sich nicht gegen die Menschenwürde. Und auch das
Rechtsstaatsprinzip stellen sie nicht infrage, unterwerfen sich vielmehr dem Recht, indem sie ihre Strafen akzeptie-
ren. Unmittelbare Gewalt gegen Personen üben sie nicht aus.

Das ist bei Linksextremisten anders. Autonome haben schon immer Gewalt gegen Personen unter bestimmten Umständen für legitim gehalten, Diskussionen gibt es vor allem darüber, ob diese Gewalt einer Öffentlichkeit vermittelbar ist. Polizisten gelten in der Regel als Repräsentanten des verhassten Staates, die angegriffen werden dürfen. Und Rechtsextremisten sind für militante Antifa-Gruppen schon immer Freiwild. Das Neue an der kürzlich zu mehrjährigen
Haftstrafen verurteilten „Hammergruppe“ um die Leipziger Linksextremistin Lina E. ist eher ihr zielgerichtetes, organisiertes Vorgehen gegen Rechtsextremisten oder Menschen, die sie für solche hielten.

Ein Beispiel für solche Militanz lieferten Autonome Anfang des Jahres: ImFebruar griffen Linksextremisten aus verschiedenen Ländern, darunter zahlreiche Deutsche, in Budapest am sogenannten Tag der Ehre mehrfach Rechtsextremisten an. Womit die Autonomen einige davon aus Berlin, nicht gerechnet hatten: Die ungarischen Polizeibehörden verhafteten mehrere von ihnen, gründeten eine Sonderkommission und erwirkten internationale Haftbefehle. Dashat die Linken überrascht. Sie hatten
nicht geplant, in Ungarn im Gefängnis zu sitzen, sondern wollten nach ihren Prügeleien mit den Neonazis unbehelligt
nach Hause fahren, dort weiter ihrem Beruf nachgehen oder studieren. So hat das rigorose Vorgehen der ungarischen
Sicherheitsbehörden – wie auch die Verurteilung der Gruppe um Lina E. zu mehrjährigen Haftstrafen – einen hohen Druck erzeugt, der bis heute auf der autonomen Szene lastet.

Für die Sicherheitsbehörden in Berlin ist die anhaltende Schwäche der linksextremen Szene allerdings kein Grund, be-
ruhigt zu sein. Sie stellt vielmehr eine besondere Herausforderung dar. Denn das Gefühl, dauerhaft in die Defensive geraten zu sein, könnte unter manchen Autonomen dazu führen, die Gewalt gegen Personen nicht mehr auf Rechtsextremisten und Polizisten zu beschränken.

Opfer könnten andere Repräsentanten des verhassten kapitalistischen Systems sein, etwa Banker, Arbeitgebervertreter oder Justizbeamte. Der Verfassungsschutz der Hauptstadt rechnet damit, dass abge-
schottete Kleingruppen diesen Weg ge-
hen könnten. Die Erfahrung zeigt: Je kleiner und konspirativer solche Gruppen sind, umso mehr neigen sie dazu, bei der Wahl ihrer Mittel immer radikaler zu werden. Es ist fraglich, ob sie sich den Diskussionen über die Vermittelbarkeit von Gewalt in der Szene und damit einer
gewissen sozialen Kontrolle noch unter werfen wollen.

Einige Aktivisten der Berliner linksautonomen Szene haben ihr Kriegshandwerk in Syrien gelernt. Das geschah freilich nicht in den Lagern des IS wie im Fall zahlreicher deutscher Islamisten, sondern bei deren Gegnern, etwa bei der Freien Armee Syriens oder den kurdischen Milizen der PKK oder YPG im Norden Syriens.

Die Zahl solch kampferfahrener Linksextremisten ist in Berlin zwar einstellig. Die besondere Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden ist ihnen allerdings gewiss.

passiert am 15.08.2023